Biographie des Paul Karl Dorscheimer
Um meinen Großvater Paul Karl Dorscheimer ausreichend zu beschreiben, muss ich doch etwas weiter
ausholen:
Mein Urgroßvater, Christian Dorscheimer nahm noch am Krieg 1870/71 teil. Da man damals nicht nur die
Gefallenen, sondern auch die überlebenden Kriegsteilnehmer notierte, kann man seinen Namen noch am Braubacher Kriegerdenkmal verzeichnet finden. Christian, der in der damals noch fast
rein evangelischen Exklave Braubach wohnte, verliebte sich in ein katholisches „Hunsrücker Mädchen“, das er erst
nach festgestellter Schwangerschaft heiraten durfte. Fortan durfte seine Frau Juliane keiner Katholischen Messe mehr beiwohnen. Im fortgeschrittenen Alter konvertierte sie und wurde protestantisch.
Nacheinander schenkte Juliane einer Tochter und sechs Jungen das Leben. Die Dorscheimers entstammten einer Salmenfischer– Tradition. Daher suchten sie sich ihren Broterwerb meist
auf dem Rhein. Durch verschiedene Erbschaften
und Zukäufe, hatten sich einige Weinberge, Gärten, Felder und Wiesen angesammelt, die bewirtschaftet werden mussten. Wer die Enge des Mittelrheintales kennt, kann sich vorstellen, wie weit die Grundstücke auseinander lagen. (Eine auf 1870 gesetzte Flurbereinigung war leider unterblieben.) Im sogenannten „Spalt“, einem Seitental des Dachsenhausener Bachtals z.B. lag eine Wiese ca. 3Km von der Stadt entfernt. Noch extremer waren einige Äcker, die Juliane Poth mit in die Ehe brachte, zu erreichen. Sie lagen auf dem Hunsrück, weit oberhalb von Rhens/Rhein. Dazu mussten die Dorscheimers mit Ochs und Nachen übersetzen, und noch Stunden den Berg empor laufen. Da dies nicht an einem Tag zu schaffen war, übernachteten sie an Ort und Stelle.
Man hatte sein Auskommen, aber konnte keinen Reichtum anhäufen. Die Kleidung war einfach und
zweckmäßig. Wenn die Kinder aus der Schule kamen, mussten sie ihr Schulkleidung aus- und Arbeitskleidung anziehen, die bei den Jungen aus Leinenhemd,
Braubach, nach 1900 Die Markuskirche (im Vordergrund) war
schon erbaut, das „Butterfass“ (der runde Turmaufsatz auf der Marksburg war noch nicht wiederhergestellt.
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Manschesterbuxen“ (Cordhosen aus dem strapazierfähigen Manchester – Baumwollstoff).
blauleinene Schürzen, wie sie z.B. auch von Schreinern getragen werden und genagelte Schuhe bestand. Die Schuhe, deren vorderen Sohlen vollständig mit Schuhnägeln
beschlagen wurden, hatten Vorteile: Die teuren Ledersohlen hielten länger und die Standfestigkeit in den steilen Weinbergen war gut. Jedoch klapperten sie
ohrenbetäubend auf dem Straßenpflaster und waren dort auch sehr rutschig.
Die Frisuren der Buben waren einfach. Im Sommer eine Haarglatze, im Winter etwas
länger. Das Frühstück bestand aus einem „Butterstück“ (Butterbrot) und einem „Schmierenstück“ (trockene Brotscheibe mit etwas Pflaumenmus, Marmelade oder Gelee).
Fleisch gab es nur Sonntags, Samstags eine „Dicke Supp“ (Bohnen-, Erbsen-, oder Graupensuppe), ansonsten wiederholte sich auch der Speiseplan der restlichen Woche.
Als die Jungen in das entsprechende Alter kamen, reichte das Essen meist hinten und vorne nicht. Die Essenszeiten wurden strikt eingehalten, wer nicht rechtzeitig kam,
schaute nur noch in den leeren Topf.
Recht und Ordnung wurden in Braubach von einem Gendarmen verkörpert, er war eine sehr
martialische Respektperson, was die Kinder nicht daran hinderte, ihn zu necken und zu foppen.
Paul Karl, der 1887 geboren wurde, hatte als Zweitältester von 7 Kindern keinen Beruf
lernen können, sondern musste, wie seine ältere Schwester Christiane und sein jüngerer Bruder Adolf, die Familie mit ernähren, also direkt nach Abschluss der
Volksschule arbeiten gehen(nur die jüngsten Brüder konnten Berufe erlernen, die damals noch Lehrgeld kosteten). Das war z.B. Arbeit im Feld oder Weinberg, sowie der
Transport von Reisenden vom Rheinschiff in Spay zum Braubacher Ufer, mittels eines Nachens.Die zweite Fahrrinne auf der Braubacher Seite, sowie die Landungsbrücke für
die Fahrgastschiffe wurden erst später gebagert bzw.gebaut. Einige Zeit fuhr Paul als Schiffsjunge und Smutje auf dem Rheinschiff seines Onkels Heinrich Dorscheimer.
Dort lernte er naturgemäß (Smutje = Schiffskoch) auch kochen, sowie stopfen und stricken.
Später, als die Gleise der Nassauische Kleinbahn Braubach und den Hafen erreichten,
verdingte sich Paul als Verladearbeiter und turnte mit schweren Säcken auf dem Rücken über schwankende Stege auf die Rheinkähne. Das wurde jedoch überflüssig, als der
große Portalkran errichtet wurde. Da Paul sich jedoch als fleißig und anstellig erwies, vertraute man ihm die Stückgutverladung der Nassauischen Kleinbahn an. Er
betrieb dies als Agentur, also auf eigene Rechnung und

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Rheinverladung der
Nassauischen Klein-Bahn um 1909(damals lag noch (ähnlich wie in St. Goarshausen)ein Ladegleis direkt auf der Kaimauer.
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eigenes Risiko. Heute würde man das als Ich - AG bezeichnen. Aber er beschäftigte
auch Lohnarbeiter. Das war nach Aussage meiner Mutter sein "goldenes Zeitalter". Doch die Stückgutverladung begann erst nach seiner 2 1/2-jährigen Militärpflichtzeit.
Durch die Zeit auf dem Rheinschiff fühlte er sich als Matrose. Wahrscheinlich plagte
ihn auch ein gewisses Fernweh, einmal aus dem Kreis seiner sechs Geschwister auszubrechen und etwas besonderes zu erleben. Jedenfalls war er tropentauglich und so
meldete er sich freiwillig zur Matrosenartillerie Kiautschou. Die -harte- Grundausbildung fand in Cuxhaven statt. Die Abreise hat er ja selbst in Tagebuchform
in Tsingtau nacherfasst.
Er selbst hat mir einiges aus dieser Zeit erzählt, von dem mir leider nicht sehr viel
im Gedächtnis blieb. Er erzählte z.B. von Schießübungen. Ein Richt- und ein Ladeschütze bedienten das Geschütz, dass von 2 anderen Matrosen um die Längsachse
nach Kommando des Richtschützen gedreht wurde. Geschossen wurde auf Zielscheiben, die auf Schleppschiffen montiert wurden. Wenn der Vorhalt, der durch die
Schleppgeschwindigkeit beeinflusst wurde, nicht richtig berechnet war, gerieten die Schleppschiffe selbst in Gefahr, versenkt zu werden.
Paul lernte das Flaggenalphabet, er lernte auch mit dem Scheinwerfer zu morsen Eine etwas eklige Geschichte ist noch in meiner Erinnerung: In Tsingtau rechnete man
mit Spionen, welche die Festungsanlagen auskundschaften würden.(Ähnliche Erfahrungen hatten die Russen in Port Arthur machen müssen.)
Daher waren auch die Matrosenartilleristen etwas dünnhäutig in dieser Beziehung. Eines Tages nun, sah Paul wie ein (ihm bekannter) Chinesischer Bäckergeselle vor ihm
den Weg entlang lief. Plötzlich sprang besagter Chinese seitlich in die Büsche. Das war doch höchst verdächtig! Paul schlich vorsichtig hinterher. Doch der
„Seitensprung“ des Bäckers hatte andere Gründe. Ein plötzliches Magengrimmen hatte ihn erfasst und er wollte sich nur etwas erleichtern. Soweit so gut, normalerweise
nimmt sich ein eingeborener Chinese, Tibeter, Nepali etc. eine Flasche Wasser mit, die er dann, zusammen mit der linken Hand als Ersatz für Klopapier und Bidet
gebraucht (daher isst er normalerweise nur mit der Rechten). Dem Bäcker jedoch, war sein „Geschäft“ etwas überraschend gekommen und so hatte er leider zur Reinigung
seines „Achterstevens“ nur die Hand zur Verfügung. – Mein Opa hat nie wieder etwas aus der chinesischen Bäckerei gegessen. –
Überhaupt hat er die damals mangelnden Hygiene und den Schmutz des Chinesenviertels beklagt.
Geländeübungen, Exerzieren, Wachestehen waren die Hauptbeschäftigung für die
deutschen Soldaten. Paul Dorscheimer vertrieb sich die Zeit mit Kartenschreiben, Gedichte verfassen und rauchen. So faszinierend das fremde Land auch war, nach Zwei
Jahren war doch das Heimweh größer. Die Ablösung wurde sehnlicht erwartet.
Jedoch die Rückkehr meines Großvaters verzögerte sich durch die Lungenpest zum Jahreswechsel 1910/11 die von rückkehrenden Gastarbeitern aus der Mandschurei
eingeschleppt worden wäre, hätte man nicht eine wirkungsvolle Quarantänesperre um Tsingtau und später auch um den Landbezirk gelegt. Die Grenzsperre zur Abwehr der
Lungenpest dauerte vom 5.Februar bis zum 6.April 1911. In dieser Zeit waren alle Unterkünfte für Soldaten doppelt belegt. Danach konnte mein Großvater endlich die
Heimfahrt antreten (wahrscheinlich auf der "Königin Luise"). Er hatte seinen kargen Sold in Tuschebilder, Fächer, Opiumpfeife, 2 herrliche Postkartenalben mit
Seidenmalerei und aufwendigem Muschel und Perlmuttbesatz ausgegeben. Leider sind diese Stücke, soweit sie noch vorhanden sind, teils stark ramponiert. Die
Ansichtspostkarten sind noch recht gut erhalten und auch die großformatigen Fotos. Die kleineren Fotos sind jedoch kaum noch zu nutzen. Zusammengeklebt, sind kaum noch
Grauwerte zu erkennen und selbst mit einer guten Photosoftware ist da nicht mehr viel zu machen. (Siehe verschiedene Ansichten von Tsingtau, Fürst Bismarck, Scharnhorst, T-Boote, Werft).
Viele der größeren Bilder, sowie einige japanische Ansichtskarten kaufte er bei dem
damals sehr beliebten Photographen Takahashi. Dieser war Japaner und stand später im Verdacht, für die Japaner spioniert zu haben. Einige Hinweise in der Literatur deuten
auch darauf hin, wenngleich ich bisher nirgendwo einen direkten Beweis für eine Aussage meines Opas fand, in der er Takahashi als Japanischen Rittmeister
bezeichnete, der den Deutschen Offizieren nach dem Sturm auf Tsingtau eine „ehrenhafte Kriegsgefangenschaft“ anbot.
Nur 3 kurze Friedensjahre waren Paul gegönnt.
Dann stand die Welt zum ersten Mal in Flammen. 1914 begann mit den Schüssen von
Sarajewo, der Erste Weltkrieg. Die Batterien der Küstenbefestigung waren alle besetzt, Tsingtau außerhalb des europäischen Kriegsgebietes und scheinbar sicher vor
Übergriffen. Daher meldete sich Paul zur Luftschiff-Flotte der Kriegsmarine, und kam dort zur Bodentruppe. Er avancierte zum Maat bz. Obermaat und Zugführer. Düren und
Ahlhorn (Oldenburg) sind als seine Einsatzorte belegt. Wie verschiedene andere Soldaten war auch sein “Zug” für das sogenannt Ein- und Aushallen der Luftschiffe (in
diesem Fall ausschließlich Zeppeline)verantwortlich. Bei diesem Verfahren wurden die Zeppeline an langen Tauen aus den Luftschiffhallen und in die Luftschiffhallen
bugsiert. Bei aufkommenden Böen, die nahe der Küste nicht selten waren,eine riskante Tätigkeit, die von dem Personal viel Übung und Teamarbeit verlangte. Schließlich war
das Wasserstoffgas in den Luftschiffen hochexplosiv, wie ein Unglück in Ahlhorn, bei dem 2 Luftschiffhallen abbrannten, bestätigte.
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Die Kriegsteilnehmer des 1.WK vor dem Kriegerdenkmal in
Braubach >ganz unten rechts, der Maat Paul Dorscheimer<
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Paul war Mitglied im Gesangverein „Quartettverein“ und Mitglied bzw. Ehrenmitglied
bei der Freiwilligen Feuerwehr.
Nach dem Krieg heiratete er Karoline Wagner und kaufte ein Haus von etwa 90qm wo er
wegen anfänglicher Kinderlosigkeit einen Untermieter aufnehmen musste. Ein Sohn starb kurz nach der Geburt. 1924 wurde Tochter Paula (meine Mutter) geboren und dabei
blieb es dann. Während der Inflation verloren seine Ersparnisse an Wert und er musste sein Haus fast zweimal bezahlen.
An dem Haus, war ein winziger Stall mit darüber liegendem Heuspeicher angebaut. Diesen Stall füllten oft zwei Schweine und zwei Ziegen, auf dem Heuspeicher
nächtigten einige Hühner. Sonntags wanderte man entweder nach Becheln in den Geburtsort meiner Großmutter oder zu ihrer Schwester nach Niederbachheim. Das waren
jeweils schlappe 8 bzw. 12Km (je hin und zurück).
Meine Mutter kann sich auch noch an eine Fahrt mit der Nassauischen Kleinbahn
erinnern, als sie etwa 4-jährig (1928) auf der Plattform stehend, den Zollgrund durchquerte. Wenn die Familie dann abends heimkehrte, hatten oft Ziegen und Schweine
ihre Trennwände eingerissen, was wiederum Karoline (Laterne) und Paul (Hammer und Nägel) zur Nachtschicht veranlasste.
Einmal hatten die Dorscheimers einen Hammel (Schafsbock), der so zutraulich wurde,
dass er meine Mutter oft in Garten oder Weinberg begleitete. Mein Großvater nahm ihn mit in den Garten, um ihn weiden zu lassen. Doch der Hammel erblickte Paula im
Wingert und riss sich los, um zu ihr zu gelangen. Paul lief sofort hinterher, konnte ihn aber nicht vor dem Weinberg erreichen. Der Hammel war auch sehr verspielt,
einmal schubste er Paula, dass diese den ganzen Berg herunterkullerte. Als dann das Tier geschlachtet wurde, konnte sie verständlicherweise keinen Bissen von seinem Fleisch essen.
Manchmal führte ein Sonntagsspaziergang die Familie zum Lahnsteiner Güterbahnhof, wo
sich mein Opa anhand der Güterwagen- Begleitpapiere über die Arbeit der nächsten Woche unterrichtete.
Karoline brachte oft zusammen mit ihrer Tochter Paula, das Mittagessen für ihren Mann
zum Kleinbahnhof. Dabei machte Paula eine sehr schmerzliche Bekanntschaft mit Kleinbahnschienen. Die Kleinbahner machten sich einen Spaß, das kleine Kind zu
necken. Dabei erschrak sich Paula und stolperte einen Schritt rückwärts, verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Hinterkopf auf das Gleis auf. Sie blutete stark,
was wiederum Paul veranlasste dem Verursacher ernsthaft Prügel anzudrohen.
Nachdem die Nassauische Kleinbahn die Braubacher Strecke ab Miehlen 1932 stillgelegt
und abgerissen hatte, verlor Paul Dorscheimer seine Arbeit und wurde nach damaligen Sprachgebrauch „erwerbslos“. Er half mit beim Bau der Hinterwälder Chausee und fand
dann Anstellung bei der „Blei und Silberhütte“. Das vertrug er jedoch gesundheitlich nicht. Da er einige Gärten und Weinberge geerbt hatte, machte er sich als Obst- und
Weinbauer selbstständig. Er begann zu pfropfen und zu veredeln – kein Baum war vor ihm sicher! Nur das biologische Gesetz: Kernobst pfropf auf Kernobst – Steinobst auf
Steinobst konnte ihn in seinem Tatendrang etwas bremsen. Da Bargeld rar war, lernte er mit den Schätzen der Natur weitgehend auszukommen. Leitern baute er aus dünnen
Fichten und geschnitzten Eichensprossen. Er flocht Mistkietzen und kleine Pflückkörbe aus gespaltenen Haselnusszweigen, große Körbe aus Weide (und das noch bis kurz vor
seinem Tode). Zäune wurden meist aus Eichenholz errichtet und mit Maschen- oder Stacheldraht bespannt. Nägel wurden auf einem kleinen Dengelamboss geradegeklopft
und ein zweites Mal verwendet.
Da Paul das zweifelhafte Glück hatte, sich in den 30er Jahren im Obstbau
selbstständig zu machen, profitierte er natürlich auch von der Politik der NSDAP, die für die Landwirtschaft feste Mindestpreise garantierte. Ansonsten betrachtete er
speziell die Braubacher Parteimitglieder und ihre Vetternwirtschaft mit Argwohn. Er war kein Widerstandskämpfer, steckte zu den anbefohlenen Umzügen die rotbraunen
Fahnen an die Fensterhalter und versuchte nicht aufzufallen. Aber immerhin nahm er seine Tochter nach einem Zwischenfall aus dem BDM und verbot ihr, dort jemals wieder hin zu gehen.
In die 30er (etwa 1938/39)fällt auch noch ein tragischer Zwischenfall mit der
Kleinbahn. Ein Vetter meines Großvaters, wollte am Hotel Kaiserhof (kurz vor der Bahnunterführung), die Straße überqueren. - Die Kleinbahn fuhr damals nur noch über
das Dreischienengleis zwischen Blei und Silberhütte und Bahnhof bzw. Hafen, da das Streckengleis nach Miehlen schon abgebaut war. – Der Vetter sah das Güterzüglein
kommen und wollte schnell noch Gleis und Straße überqueren. Doch er hatte ein herannahendes Auto übersehen. Vor Schreck sprang er zurück, direkt vor die
Kleinbahnlok. Er war sofort tot. Paula war zu diesem Zeitpunkt in der Stadt. Sie sah nur die genagelten Schuhe und die blaue Schürze. Die Leute sagten „ Die Kleinbahn hat
den Dorscheimer tot gefahren“. Doch zum Glück (für Paula) war es nicht ihr Vater, der dort lag. Diese Geschichte ist allerdings bisher in keiner Publikation erwähnt worden.
Der Zweite Weltkrieg nahte, viele junge Burschen wurden zum Militär eingezogen und
fehlten an anderer Stelle. Während sich die Parteigenossen Fremdarbeiter in ihre Weinberge holten, wurde Paul als Flurschütz und Reblauskontrolleur verpflichtet. Auch
die Frauen mussten in Industrie- und Rüstungsbetrieben aushelfen.
Kurz vor der Kapitulation wurde noch ein Volkssturm aufgestellt. Paul wäre mit
58Jahren noch im passenden Alter gewesen, doch derjenige, der die Truppe aufstellte, stellte ihn frei. Er habe durch seinen Dienst in Tsingtau und im Ersten Weltkrieg
genug für sein Vaterland geleistet.
Während der Bombenangriffe auf den nahegelegenen Lahnsteiner Güterbahnhof und des
direkten Artilleriebeschusses am Kriegsende, flüchteten viele Braubacher in den Grubenstollen der Grube Rosenberg auf der Kerkerts. Manche Nächte verbrachten dort
Karoline und Paula, während Paul sich oft nur in einen nahe des Hauses befindlichen Splittergraben flüchtete.
Paula erkrankte an Diphtherie. Während sie vorübergehend gelähmt wurde, hatte sich
der Arzt, der ihr eine Folgespritze verabreichen sollte aufs Land, in Sicherheit gebracht. An einem sonnigen Tag hatte ihre Mutter sie vor das Haus gesetzt und war in
den Garten gegangen. Sie hatte Paula aus Ermangelung eines Stoffes, aus einer alten Hakenkreuzfahne einen Rock genäht. Die Stelle wo der weiße Kreis mit den Emblemen
abgetrennt wurde, war leider durch eine andere Farbtönung noch deutlich sichtbar. Vorbeimarschierende Amerikanische Soldaten sahen das, und beschimpften meine Mutter
als “Nazi-Wife”. Sie konnte sich leider durch ihre Lähmung nicht entfernen, und musste diese verbale Atacke über sich ergehen lassen. Die Lähmung verschwand mit der
Zeit, nur eine Schwerhörigkeit blieb als dauernder Schaden zurück.
Doch langsam ging es wieder bergauf. Paula heiratet 1946 und im Sommer 1947 erblickte
mein Bruder Kurt das Licht der Welt.
1951 erkrankte Karoline schwer und verstarb nach kurzem Leiden. Paul war nun Witwer.
Da ich erst 1953 geboren wurde und mein Vater schon früh Vollwaise wurde, kannte ich nur einen einzigen Opa und keine Oma. Vielleicht fixierte ich mich deshalb besonders
auf ihn und seine Erlebnisse in Kiautschou und mit der Kleinbahn. Nach einiger Zeit nahm Paul meinen Bruder Kurt mit auf eine Reise. Er besuchte seine
Schwester Christiane (Tante Jahnsche) in Hamburg – Harburg, fuhr auch nach Helgoland und Cuxhaven, wo er eine Jugendliebe besuchte. Doch energischer Einspruch seiner
Schwester vereitelte ein spätes Glück. Vielleicht kam daher seine oft ernste Mine und eine gewisse Verschlossenheit, die ich an ihm erlebte.
Paul war ein sehr interessierter Mensch, besonders in den Bereichen Politik und Technik. Auch las er regelmäßig seine Tageszeitung
Daher besaß er eines der ersten Detektorradios in Braubach, später ein 3-Röhren
Audion Arcophon von Telefunken und 1957 schon zusammen mit uns, einen gebrauchten Fernseher der Marke Loewe Opta. Dieser machte uns später noch Kummer. Wohl ein
Selengleichrichter erhitzte sich, und brachte nach einiger Zeit das Bild zum Durchlaufen. Um diesen Prozess zu verzögern, saßen wir in der letzten Nutzungszeit
des Gerätes im Winter mit Mütze und Mantel im Wohnzimmer und versuchten mit geöffneten Fenstern, den Fernseher zu kühlen. Angeblich konnte kein Reparateur den Fehler beheben!
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Weinlese auf dem Blosberg
Mein Großvater war ein sehr mäßiger Mensch mit einem regelmäßigen Tagesablauf. Abends
um 20:15 Uhr nach der Tagesschau, legte er sich ins Bett und stand früh wieder auf. Die einzigen Genüsse die er sich gönnte, waren eher bescheiden. Z.B. aß er nur „gute
Butter“ auf dem Brot und verschmähte Margarine. Morgens trank er oft einen Wacholderschnaps, vor dem Mittagessen ein Glas Wein aber
nie mehr. Sonntags ging er auch schon mal zum Frühschoppen in das nahegelegene Gasthaus Rosenacker. Aber das diente mehr der Kommunikation mit Gleichaltrigen. Er
rauchte sonntags Zigarren und Wochentags Pfeife, wobei er die Zigarrenstummel auch schon mal statt Tabak stopfte, außerdem priemte er, was er sich wohl als Seemann
angewöhnt hatte. Sein Tabak, Marke Kiepenkerl stank fürchterlich. Besonderen Wert legte er auf Qualität. Egal ob es um Werkzeug oder Kleidung ging. Lieber kaufte er
weniger, als sich minderwertige Billigware andrehen zu lassen. Er war (außerhalb der Erntezeit) ein fleißiger Kirchgänger. Oft begleitete ich ihn Sonntag Morgens in die
Kirche. Auf dem Heimweg ging’s dann oft am Bahnhofskiosk vorbei, wobei auch schon mal was für mich abfiel. Wenn er dann in den Rheinanlagen noch alte Kameraden traf,
wurde meine Geduld auf eine harte Probe gestellt und ich wurde auch mal etwas quengelig. Oft erzählte er mir auf dem Weg nach Hause von seiner Zeit in China und
erklärte mir auch die Funktion der Kleinbahnweichen und warum eine dritte Schiene auf den Schwellen aufgeschraubt war. Ich kannte die Kleinbahn nur noch als
Hüttenbähnchen und musste miterleben wie die letzte Dampflok vom Schneidbrenner zerteilt wurde. Die ledernen Vorhänge an der kleinen Dampflok hatten für mich stets
etwas mystisches an sich gehabt. Mein Opa erzählte von der großen Zeit der Bahn, als die Züge noch durch den Zollgrund schnauften.
Soweit uns die Obsternte Zeit ließ, machten wir Ende der 50er- und Anfang der 60er
Jahre einige Ausflüge auf dem Rhein mit der KD bis Rüdesheim
bzw. Köln und mit dem Reisebus der Firma Schlösser nach Trier, Heidelberg oder auf
den Großen Feldberg. Dabei begleitete uns auch unser Opa. Meine Eltern bauten 1963/64 ein Haus in einen unserer Weinberge. Notgedrungen musste auch Paul mit
umziehen – aber einen alten Baum sollte man nicht mehr verpflanzen.
Zwei Jahre sollte er noch in diesem Haus leben. Dann überging er, der bei Wind und
Wetter in Garten und Wingert arbeitete einen grippalen Infekt. Er war schon den ganzen Tag etwas seltsam gewesen, las die Zeitung zweimal und wirkte überhaupt etwas
zerstreut. Meine Mutter wollte noch einen Arzt herbeirufen, doch dieser hatte noch andere Termine, versprach aber, in der Früh vorbei zu schauen. Doch als der Arzt
morgens vorbei kam, war es schon zu spät. Paul hatte aufstehen wollen, war aber auf seinem Bett zusammengebrochen. Ein kurzer Todeskampf, dann war es vorbei. Alle
Wiederbelebungsversuche des Arztes waren erfolglos.
Unter der Beteiligung einer Abordnung seiner geliebten „Freiwilligen Feuerwehr
Braubach“ wurde er zu Grabe getragen. Mittlerweile ist nach über 25 Jahren seine Grabstelle abgeräumt und das Podest für die Urnenwand wurde darüber errichtet. In
diese Urnenwand, also in Nähe zu seiner letzten Ruhestätte, wurde im Jahr 2005 seine Tochter Paula, unsere Mutter und Oma beigesetzt.
Paul Karl Dorscheimer
geb.: 27.09.1887 in Braubach/Rhein
gest.: 09.11.1966 in Braubach/Rhein
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